Vierbeinige Waisenkinder

erschienen am 22.02.1990

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Fohlengeburt. Unvergeßliches Erlebnis, für jeden, der einmal dabei sein darf. Elf lange Monate Warten und Hoffen haben endlich ein Ende. In manchen Fällen aber auch ein jähes Ende. Der Alptraum aller Züchter: die Stute überlebt die Geburt oder die ersten Stunden danach nicht. Todesurteil für das kleine Leben? Aus tierärztlicher Sicht lautete die Antwort bis vor kurzem meistens "ja". Die sogenannte Biestmilch ist durch nichts zu ersetzen und muß vom Fohlen kurz nach der Geburt, unbedingt aber in den ersten 24 Stunden, in sehr kurzen Abständen getrunken werden. Die Stutenmilch hat die richtige Zusammensetzung und Temperatur und steht normalerweise ausreichend zur Verfügung. Was tun, wenn die Mutter stirbt? Eine Ammenstute suchen? Die Praxis zeigt, daß Adoptivmutter und Waisenkind sich häufig beim ersten Versuch nicht mögen, eine zweite, dritte oder auch vierte Stute muß gefunden werden. Ein Wettlauf mit der Zeit, denn in den ersten Lebenstagen eines Fohlens entscheiden Stunden über Tod oder Leben. Seit Wochen ist man beim Fohlen-Notdienst vom Hof Voss in Wittorf bei Lüneburg wieder in den Startlöchern, um Pferdebabys auf anderem Wege das Leben zu retten. Und das mit einem Erfolg, der selbst anfänglichen Skeptikern und Spöttern Respekt abverlangt. Das Konzept klingt so einleuchtend, daß man sich fragt, warum es nicht schon längst Schule gemacht hat: Die neugeborenen bzw. wenige Tage alten Fohlen werden unter tierärztlicher Aufsicht vom Team des Notdienstes in Intensivpflege durch die ersten Lebenswochen gebracht, wachsen unter Gleichaltrigen mit einer "Tantenstute" heran und verlassen den Hof als propere Absetzer, um wie alle Fohlen, die ihre ersten Monate an der Seite ihrer Mutter verbringen durften, in eine Absetzergruppe zu wechseln. Die Praxis gibt den Idealisten auf Hof Voss recht: 17 Fohlen mit tragischer Vorgeschichte verbrachten im letzten Sommer ihre ersten Lebensmonate dort. "Cookie kam auf dem Rücksitz eines Geländewagens, ein Zwillingsfohlen, einen Tag alt und kleiner als ein Schäferhund" erinnert sich Karin Meyer an das erste Ziehkind. Winzig, aber mit offensichtlichem Lebenswillen, der den Züchter, dessen Stute zu wenig Milch für zwei Fohlen hatte, überzeugte, es mit dem Fohlen-Notdienst zu versuchen. Nichts geht ohne Adoptivmutter Die Menschen vom Hof Voss wären allerdings nichts ohne die Hannoveranerstute Ballerina Rieckmann, Adoptivmutter nicht etwa eines Fohlens, sondern der ganzen Fohlenschar. Ohne Milchbar, die kommt per Fläschchen und später aus dem Eimer per Menschenhand. Aber anständiges Benehmen lernen die Kleinen bei "Frau Rieckmann", Kuscheleinheiten gibt es bei ihr und man kann sich mal verstecken, wenn man die anderen zu doll geärgert hat. "Ein Phänomen", geben die Leute vom Hof Voss zu, "die Stute bemuttert alles, was kleiner ist als sie. Und wenn von zwölf Fohlen eins fehlt, merkt sie es sofort!" Fremde Zweibeiner sollten sich besser nicht auf die Fohlenweide wagen, auch Besucher im Stall halten lieber Abstand. Die große braune Stute war es auch, die die Idee des Fohlen-Notdienstes ins Leben rief. Mit einem fünf Wochen alten Fohlen schwer verunglückt, mußte die Übermutter vor einigen Jahren eine Odyssee durch Tierkliniken über sich ergehen lassen, keine Chance, das Fohlen mitzunehmen. Guter Rat war nicht teuer, er war schlicht und einfach nicht zu haben. Die Suche nach einer Amme hatte kein Glück, Notrufe über Telefon und sogar das Radio brachten keinen Erfolg. Die Rettung durch einen kleinen Züchter im Osten, der das Fohlen an die Flasche gewöhnte und zu einer Stute stellte, die bereits ein Fohlen hatte, erfolgte in letzter Sekunde. Karin Meyer aber wurde von Stund an von dem Gedanken verfolgt "Was wird alljährlich aus den Fohlen ohne Mutter?". Die ehemalige Vielseitigkeitsreiterin hatte den Hof Voss gemeinsam mit Landwirt Erich Voss und Sandra Peters zu einem kleinen, von der FN ausgezeichneten Musterbetrieb in Sachen Pferdehaltung ausgebaut - die Idee eines Fohlen-Notdienstes stieß bei Tierärzten, Züchtern und Futtermittelfabrikanten zunächst eher auf breites Grinsen als auf Unterstützung. Heute hängt in jeder Deckstation des Hannoveraner Verbandes ein Plakat vom Fohlen-Notdienst. Die erste Hürde ist die Aufnahme der Biestmilch Die erste Hürde im Fohlenleben ist die Aufnahme der Biestmilch (sie sorgt unter anderem dafür, daß das Fohlen das sogenannte "Fohlenpech ausscheiden kann), die nur innerhalb der ersten 24 Lebensstunden ihre volle Wirkung entfaltet. Der belgische Futtermittelhersteller "PAVO" hat einen hochwertigen Biestmilchersatz entwickelt, den der Fohlen-Notdienst mit tierärztlicher Begleitung im eigenen Stall einsetzt oder auf schnellstem Wege zum Besitzer eines mutterlosen Fohlens bringt. Muß der Biestmilch-Ersatz als erste Milch gefüttert werden, ist der Tierarzt auf die Minute genau zur Stelle, führt Hämoglobintests durch und spritzt bei Bedarf Blutplasma, um den Abwehrkräften auf die Sprünge zu helfen. Praktische Hilfe will man ratlosen Fohlenbesitzern bieten, die ihr mutterloses Fohlen selbst aufziehen wollen. Die intensive Betreuung eines Flaschenkindes kann allerdings aus Zeitgründen kaum jemand in Eigenregie übernehmen, und selbst wenn der Fohlenbesitzer willens und in der Lage ist, sich etwa fünf Monate nur und ausschließlich dem kleinen Vierbeiner zu widmen, läßt sich ein Problem kaum vermeiden: Eine gewisse Vermenschlichung des Saugfohlens, schärfer ausgedrückt, das Erlernen "asozialer" Verhaltensweisen. Genau dem wollen die Pferdeleute vom Fohlen-Notdienst vorbeugen. Artgerechtes Aufwachsen in Gruppen, Licht und Luft, Bewegung und das Training normalen Sozialverhaltens ist das A und O ihrer Arbeit. "Unsere Fohlen haben sich im Herbst gut in die Absetzerherden integriert. Sie strotzten vor Selbstbewußtsein und machten keinerlei Probleme", so Karin Meyer. Ohne ein großes Maß an Tierliebe ist dieser Einsatz nicht denkbar Im ersten Sommer waren überwiegend Warmblutfohlen, Oldenburger und Hannoveraner, auf Hof Voss. Doch das Pedigree ist Karin Meyer, Sandra Peters und Erich Voss gleichgültig. Vernünftig aufwachsen sollen die kleinen Waisen, egal, ob sie später einmal Stars im Viereck oder "nur" Freizeitpartner werden sollen. "Unser Angebot ist von Romantik für die Tränendrüsen weit entfernt, das merkt jeder, der diesen Alltag einmal miterlebt. Aber die Bedeckung und die Trächtigkeit einer Stute kosten schon so viel Geld, daß es nur vernünftig ist, dem Fohlen alle Chancen zu geben." Und trotzdem, ohne eine Übermaß an Tierliebe ist der Einsatz für die Fohlen nicht denkbar. Die meisten Fohlendramen des ersten Sommers haben ein Happy-End und bleiben dem Team in Erinnerung... Fast unfreiwillig wurde ein kleines Oldenburger-Stütchen zum Star der Stutenschau mit Fohlenbrennen auf dem Grönwohldhof: Hervorragend gezogen, kam ein Verzicht auf den begehrten Brand nicht in Frage. Auf dem Hof Voss machte man sich also samt Fohlen auf den Weg - um abends mit einer Fohlenprämie wieder heimzukommen. Dem kleinen Haflinger "Stormy King" erging es ähnlich. Bei der Fohlenschau des Pferdestammbuch Schleswig-Holstein erhielt er die besten Bewertungen und wird jetzt als Hengst aufgezogen. Rasantere Zukunftsaussichten hat dagegen Britannia xx. Aus bester Familie, soll sie einmal, wie einst ihre Mutter, auf der Rennbahn die Farben ihres Stalles verteidigen. Wie kommt so ein wertvolles Vollblutfohlen auf den kleinen Hof am Rande der Lüneburger Heide? Durch Empfehlung der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Dort wurde man schnell aufmerksam, als die Idealisten ihren Plan so erfolgreich in die Tat umsetzten. "Rund um die Uhr erreichbar" - für den Fohlen-Notdienst eine Selbstverständlichkeit. Die Nachtschicht hat ein beheiztes Quartier mit Liege und neuerdings aus gegebenem Anlaß Kinderbettchen. In der Hochsaison bleibt für Pausen allerdings wenig Zeit: Die kleinsten Fohlen müssen alle zwei Stunden mit der Flasche gefüttert werden, die größeren trinken zwar aus Eimern, wollen aber alle gleichzeitig versorgt werden... die Milch muß richtig temperiert sein, über jedes Fohlen wird bei jeder Mahlzeit genau Buch geführt, peinlichste Sauberkeit und Hygiene in Stall und Milchküche sind ein Muß. Ständige Beobachtung der Fohlen ist ebenfalls lebenswichtig. "Zu uns bringen die Winzlinge ja Keime aus den verschiedenen Ställen, mit Kinderkrankheiten sind wir also reichlich gesegnet", so Karin Meyer, "wir behandeln nur in Absprache mit unserem Tierarzt und Heilpraktiker, vielfach homöopathisch. Nach vier bis sechs Monaten werden unsere Fohlen mit einem gut trainierten Immunsystem nach Hause geschickt." Die Erfahrung, die das Team mit mutterlosen Fohlen hat, übertrifft nicht selten das Wissen von Züchtern und Tierärzten - ganz einfach, weil mutterlose Fohlen für diese eine Ausnahme sind, für den Fohlen-Notdienst aber Alltag. Im Notfall ist keine lange Planung nötig, da heißt es Improvisieren. "Cookie" beispielsweise schlüpfte gar nicht ungern in eine kuschelige Thermoweste statt Fohlendecke, wie sie inzwischen zur Verfügung steht. Drei volle und zwei halbe Einsatzkräfte teilen sich die Schichten. Neben der Fohlenversorgung gehören auch telefonische Beratung oder zu jeder Tages- und Nachtzeit Kurierdienste mit Biestmilch zum Programm. Hilferufe kamen schon aus Italien und Norwegen, unbürokratische Hilfe gibt es auch von unerwarteter Seite: "In einem Notfall hat sogar die Bundesbahn Biestmilch betriebsintern von Lüneburg mit nach Holstein genommen!" Auch die Forschung horcht auf, für eine bereits geplante Doktorarbeit zum Thema Aufzucht von Saugfohlen haben die FN und die TH Hannover zwar schon Zuschüsse bewilligt, weitere Sponsoren werden allerdings noch dringend benötigt. Zur Zeit herrscht beinahe "Ruhe vor dem Sturm" im Stall bei Bardowick. Frau Rieckmann und ihre Leute haben die aufregenden, arbeitsreichen Monate des Fohlenjahrgangs '99 noch vor sich... Imke
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